Wie die Spanier*innen ihren Stolz feiern – und was wir vielleicht daraus lernen können. Ein Erfahrungsbericht vom 36. Gay Pride Madrid und der größten Party Spaniens.
Ein ausnehmend holpriger Flug durch pechschwarze Wolken, aus denen die kleine Iberia-Maschine sich mühevoll nach unten schraubt und krachend auf der noch nassen Bahn in Barajas landet – doch dann, strahlender Sonnenschein. Eine bessere Metapher könnte es nicht geben für den Ausnahmezustand, in den sich Madrid einmal im Jahr begibt. Denn dann erstrahlt die sonst eher als konservativ bekannte spanische Hauptstadt allüberall in Regenbogenfarben, und Millionen Besucher*innen aus allen Ecken und Winkeln der Erde überfluten nicht nur das Szeneviertel Chueca.
Das „MADO“, Madrid Orgullo oder Madrid Pride ist eine der bestbesuchtesten Feiern des Landes und mit Abstand das größte Pride Festival Europas. 2009 zählte die spanische Regierung 1,5 Millionen Besucher*innen, und für 2014 dürfte die Zahl ähnlich hoch gewesen sein. Seit 1979, im ersten Jahr nach dem Tod des Diktators Franco, ist das MADO damit eine feste Institution in der Stadt und auch bei den Offiziellen nicht unbeliebt.
Donnerstag
Schon zur Carrera de Tacones, oder Pumps Race, am Donnerstag wurde klar, dass diese Besuchermenge das eher kleinstädtisch anmutende Chueca mit seinen kleinen Gassen heillos überfordert. Der Wettbewerb fand zwischen den Häusern in der Calle Pelayo statt und konnte erst beginnen, nachdem Ordner zum dritten Mal mit Megaphonen die Strecke abgelaufen waren um wenigstens einen ca. zwei Meter breiten Korridor zwischen den Zuschauenden zu schaffen. Die Frage, wer gewonnen hat, erübrigt sich damit auch: ein Durchkommen zum Zieleinlauf war undenkbar.
Der Donnerstagabend war geprägt vom offiziellen Aufwärm-Festival an der Plaza del Rey mit Gesangs- und Tanzeinlagen mit Ensembles, die „todo el camino de Bilbao… Bilbao, metro“ kamen. Das Motiv, das alle anderen übertraf war definitiv Conchita Wurst. Neben dem obligatorischen „unstoppable“ hier und da gab es auch Neuinterpretationen der Grand Prix-Ballade und Videoeinspielungen.
Des Abends zuvor war Frau Wurst persönlich bei der ersten öffentlichen Kundgebung anwesend, was leider erst nach Reiseplanung bekannt geworden war. Die Bars waren schon deutlich voller als sonst üblich, doch die eigentliche Party spielte sich trotz gelegentlich einsetzender Regenschauer auf den Gassen und insbesondere auf der Plaza Chueca ab.
Freitag
Die erste Assoziation mit dem Begriff „Pride-Gala“ war keine besonders Gute, speziell nachdem für Freitagabend noch die Wahl zum „Mr. Gay Pride España“ angekündigt wurde – das roch nach Machotum, schwulem Kommerz und Lookismus. Die Open Air-Veranstaltung in Callao direkt an der Gran Vía konnte dennoch mehr als überzeugen und überraschte mit starken politischen Inhalten. In einer sehr gekonnten Mischung aus Samstagabend-Fernsehshow mit gemischtem Moderationspärchen, garniert mit dem Lächeln der 32 Schneidezähne, verblassenden 80er Jahre-Sternchen mit in der Szene bekannten Hits (Vicky Larraz mit No Controles), schwulen Übermuttis (Lolita Flores mit Sarandonga), einem eher so mittelmäßigen Zauberer, der neben der Regenbogenflagge häufiger mal mit lautem *PUFF* weiße Tauben aus seinem Schritt entnahm (huch, habe ich da etwa seinen Trick verraten?), erwähnter Misterwahl inklusive Jury und Badehosen-Contest sowie vielviel Konfetti und Glitzer folgten auch sinnvolle Inhalte in perfekter Integration.
Mit absoluter Aufmerksamkeit verfolgten so die hunderten Menschen auf dem Platz eine etwa 20-minütige Dokumentation über Stonewall, die Geschichte von Gay Pride und Polizeigewalt auf drei Großbildschirmen. Die wichtigsten Begriffe und Hintergründe zur Festivität und der Motivation, warum mensch überhaupt auf die Straße geht, wurden so noch einmal eingängig nähergebracht und in einer bewegenden Rede vom Vorstand des Organisationskomittees nochmal unterstrichen.
„Heute sind wir alle Aktivist*innen im Geiste von Stonewall“ war nur eine der Aussagen, die die Menge zum tosen brachten. Auch der Hinweis, dass die konservative Stadtregierung unter Ana Botella, der Gattin des früheren Ministerpräsidenten Aznar, die Planungen für sämtliche Veranstaltungen nach Kräften behindert hatte, zog heftige Reaktionen nach sich. Ein kollektiver Freudenschrei hallte die Gran Vía hinunter als er meinte, Frau Botella (dt. „Flasche“) sei nächstes Jahr Geschichte. Dennoch war die Route des Umzuges dieses Jahr stark verkürzt, und alle öffentlichen Veranstaltungen mussten um spätestens zwei Uhr morgens schließen.
Er schloss mit der chilenischen Freiheitshymne, die in Spanien ähnlich wie die Internationale rezipiert wird: „El Pueblo unido, jamás será vencido!“ – „Das geeinte Volk wird niemals besiegt werden!“. Die Zuschauenden skandierten diesen Spruch noch unisono, als er die Bühne bereits verlassen hatte.
Die Organisator*innen haben damit einen beachtlichen Spagat vollbracht: eine auf den Mainstream gemünzte Gala, die Hintergrundwissen und Diskussionsstoff in zumindest ausreichender Menge unter die Menschen bringt, ist eindeutig das Werk von Profis.
Bliebe noch zu erwähnen, dass der Kandidat aus Zaragoza, Jesús Martín, von Beruf Tänzer, recht eindeutig zum Mr. Gay Pride España gewählt worden ist. Vamos Maños!
Samstag
Eine Eigenheit der Straßenparade ist in Madrid sicherlich, dass sie aufgrund der Temperaturen erst gegen halb sieben am Abend beginnt. Dieses Jahr war die Aufstellung an den Bahnhof Estación de Atocha verlegt worden, da die Puerta de Alcalá mit der darauf folgenden repräsentativen Gran Vía der Stadtregierung zu schade erschien. So verlief die Parade entlang dem deutlich kürzeren Paseo del Prado, vorbei am weltbekannten Museum gleichen Namens.
Fußgruppen und LKWs sind bei dieser Parade in zwei Blöcke geteilt, so dass sich zuerst viele Vereine und Parteien zwischen die schier endlose Menge der Zusehenden schoben. Die meisten davon hatten neben Bannern, Aufklebern und Parolen auch eigene Musikdarbietungen in petto, meist Percussiongruppen. Das sorgte für eine sehr effektive Steigerung der Stimmung, bei der die Menschen noch sehr zugänglich für Inhalte und Ideen waren. Ein sehr stark verbreitetes Motiv dieser Phase war das Motto der Izquierda Unida „Sin feminismo, no hay orgullo“ – „without feminism, there is no pride“, die Aufkleber fanden sich später auf fast jedem T-Shirt.
Darauf kamen in bekannter Manier die Party-LKWs (span. carroza), die hier meist doppelstöckige Busse mit ganzflächigen Aufklebern und geöffnetem Dach waren. Flyer und Kamellen wurden beinahe keine geworfen, dafür gab es Wasserpistolen und viel Interaktion. Das generelle Motto des Umzuges war „Nos manifestamos por quienes no pueden“ – „wir demonstrieren für die, die es nicht können“. Der Umzug endete unweit der alten Partido Popular-Zentrale, an der Plaza de Colón (Kolumbusplatz). Dabei ließ es sich keine der vorbeiziehenden Gruppen nehmen, immer wieder laut „Botella dimisión“ zu fordern, also den Rücktritt von Ana Botella.
Die Nacht war geprägt von Straßenfesten. Sei es an der Plaza del Rey, wo es beinahe zu einer Massenpanik wegen Überfüllung kam, oder an der Plaza Chueca, überall war jedoch um 2 Uhr morgens offiziell Sense. Die Musik musste abgeschaltet werden, doch heim ging noch niemand. Die Feiernden behalfen sich statt dessen mit selbstorganisierten Konzerten – gespielt auf Mülltonnen. Und es hörte sich ziemlich gut an!
Sonntag
So schnell die Besucher Madrid in Chaos stürzen konnten, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Am Sonntag bereits war die Stadt merklich leerer und übersichtlicher, und überaschenderweise: perfekt sauber! In den Morgenstunden, die die Teilnehmenden entweder für Schönheitsschlaf oder die Abreise zu nutzen wussten, hatte die Stadtreinigung bereits ganze Arbeit geleistet und die nicht zu verachtenden Überreste der Feierlaune beseitigt.
Die Abschlussveranstaltung am Sonntag Abend zeigte, dass dort wo sich gestern noch alle auf die Füße gestiegen waren, sogar Platz zum tanzen war. Und es war nun tatsächlich möglich, auch in eine Kneipe zu gelangen ohne vorher lange Schlange zu stehen. Verhältnisse wie an jedem anderen Wochenende.
Was bleibt nun am Ende? Madrid hat es geschafft, in einem friedlichen Massenevent Politik und Unterhaltung gut zu vermengen.
Bleibt zu hoffen, dass die Organisator*innen kommendes Jahr wieder mehr Freiheiten zugestanden bekommen – und dass Madrid’s Bewerbung um den World Pride 2017 diesen Herbst erfolgreich verläuft. Wie schon ein spanisches Sprichwort sagt:
Desde Madrid al cielo.
„Nach Madrid ist nur der Himmel schöner.“